Kapitel 4
Die Nebel des Bran
Während Nuada an Höhe gewann, schickte Brägan Kurierlibellen an Taryn, Claig, Airt und Fionn, die mit Hefeyd und Jo zu den Mitgliedern des Großen Kreises der Magier zählten, und bat sie, sich sofort auf den Weg nach Rhyallis zu machen.
Als die letzte Libelle davonstob, hob er den Kopf und starrte fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot. Blitze gleißten durch das weiße Wirbeln der Nebelschwaden, die den Bran nun fast vollständig verhüllten und auf die Berghänge des angrenzenden Gebirges, den Wald und Rhyallis zuwallten. Seit Anbeginn der Aufzeichnungen war dies noch nie geschehen. Brägan kannte die alten Schriften: Die Wächter sorgten dafür, dass der Nebel auf dem Gipfel blieb. Er hatte auf den Hängen und in den Tälern nichts zu suchen.
„Brägan, willst du nicht Korbinian rufen?” Nuadas Stimme klang besorgt. „Er sollte davon wissen.”
„Du hast recht. Versuche derweil, das Rudel zu finden.”
Der Flyr ging sofort in den Sinkflug über und schoss auf den Wald am Fuße des Bran zu. Brägan ergriff die Schlaufen des Halsriemens und spürte, wie Artan die Arme um seine Hüften schlang, um nicht den Halt zu verlieren.
Korbinian? Brägan hatte kurz nach dem Sieg über Morfan zu seiner großen Freude festgestellt, dass er über die Gabe verfügte, mittels Gedankenrede mit dem verstorbenen Magier zu kommunizieren. Dessen Rat war ihm immer noch der wertvollste.
Brägan. Warum störst du meine wohlverdiente Ruhe? Hat Jo etwas angestellt? Die Stimme klang schläfrig.
Schau durch meine Augen!
Ich kann nichts sehen!, murrte Korbinian nach einer Weile.
Brägan runzelte die Stirn. Du kannst nichts sehen? Die Übertragung der Bilder während der Gedankenrede hatte noch nie versagt. Was ging hier vor?
Nein! Was möchtest du mir zeigen?
Der Nebel des Bran breitet sich aus! Er stürmt die Hänge hinab auf die Stadt zu.
Das kann nicht sein! Korbinians Stimme donnerte in Brägans Kopf. Die Wächter handeln nicht gegen ihre Bestimmung.
Und wenn sie jemand gezwungen hat?
Der alte Magier lachte leise. Brägan! Niemand hat Macht über die Wächter. Das müsstest du wissen. Sie sind stärker als wir Magier und ...
Korbinian?
Die Verbindung zu dem Magier war abgebrochen. Ausgerechnet jetzt, wo ich seinen Rat so dringend benötige. Brägans Magen verkrampfte sich. Wer war in der Lage, über die Wächter zu gebieten und die Gedankenrede zu unterdrücken? Mit Bedauern dachte er daran, dass sich nur Fionn und Claig in Rhyallis aufhielten und ihm schnell zu Hilfe eilen konnten. Taryn war in Cyfor, Airt hatte er nach Dùn Righ geschickt. Bis sie eintrafen, würde der Nebel die Stadt bereits erreicht haben.
Plötzlich stieg vor ihm ein Flyr aus dem Wald fast senkrecht in die Luft. Es war Hefeyds Flyr Niall. „Brägan”, rief er und schlug mit den mächtigen Schwingen. „Das Rudel hat sich versammelt und erwartet dich.”
Brägan nickte und ließ Nuada hinter Niall zu Boden schweben und im weichem Gras aufsetzen. Ein Blitz tauchte die Lichtung für einen winzigen Augenblick in blendendes Licht und enthüllte an die vierzig Hunde.
Artan und Brägan sprangen zu Boden und gingen auf Tanor, den Anführer des Rudels zu. Der riesige schwarze Rüde trat vor und verneigte sich leicht. Sein rechter Vorderlauf fehlte, doch dies behinderte ihn nicht. Der Waldläufer ging in die Hocke, sah ihm in die gelben Augen, erfasste seine Gedanken und sprach für ihn. „Die Zeiten sind im Wandel. Was können wir tun?”
„Es gilt, die Wächter zu finden, um mit ihnen den Nebel zurück zum Gipfel zu treiben.” Brägan strich sich mit der Hand über das Kinn. „Tanor möge seine kräftigsten Rüden auswählen. Die Flyre werden sie unterhalb des Gipfels absetzen, damit sie sich auf die Suche nach den Wächtern machen. Ihre Sinne sind feiner als die unseren.”
Der Waldläufer sah erneut in Tanors Augen, um ihm mitzuteilen, was Brägan gesagt hatte. Daraufhin wandte sich der Hund um, bellte mehrfach in die Nacht und die gerufenen Rüden traten vor.
Im gleichen Augenblick ertönte das Rauschen von Schwingen in der Dunkelheit. Der Flyr Nurk setzte mit dem Magier Fionn elegant in der Mitte der Lichtung zur Landung an, während Furyk, Claigs Flyr, mit den Schwingen die Baumwipfel streifte, ins Trudeln geriet und mehr schlecht als recht auf der Wiese zum Stehen kam.
„Bei Raik, was ist mit dem Nebel los?”, rief Claig, sprang ab und hechtete mit kräftigen Schritten und Fionn im Schlepptau auf Brägan zu. Sein mächtiges Breitschwert wippte an seiner Seite. Brägan wusste, wie schwer es war. Er selbst konnte es kaum halten.
„Wir müssen die Wächter finden, um das herauszufinden”, erwiderte Brägan und zuckte unter dem Schlag zusammen, den Claig ihm zur Begrüßung auf die Schulter gab.
Fionn trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Und was tun wir, wenn wir sie gefunden haben?” Sein Gesicht zuckte, wie immer, wenn er aufgeregt war.
„Wir helfen ihnen, den Nebel zum Gipfel zurückzutreiben. Alleine scheinen sie dazu nicht in der Lage zu sein.” Brägan spürte bei diesen Worten seine eigenen Zweifel. Die Wächter hatten noch niemals zuvor die Hilfe der Magier benötigt. Was war geschehen? Aus welchem Grund erfüllten sie ihre Aufgabe nicht?
Claig schien denselben Gedanken zu haben und runzelte die Stirn. „Hast du mit Korbinian gesprochen?”
„Ja, doch konnte ich nur wenige Worte mit ihm wechseln. Dann brach die Verbindung ab.”
„Das ist seltsam”, meinte Fionn. „Hatte er einen Rat für dich?”
Brägan schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. „Ist euch in den letzten Tagen in Rhyallis etwas Ungewöhnliches aufgefallen?”
Claig öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Fionn kam ihm zuvor. „Dir bestimmt nicht. Du hast ja das Gasthaus kaum verlassen.” Er machte eine beschwichtigende Handbewegung, als der kräftige Magier zu einer Erwiderung anhob. „Schon gut, schon gut”, meinte er lächelnd. „Ich habe jedenfalls nichts bemerkt.”
„Ich auch nicht”, brummte Claig.
„Es hat sich kein Fremder im Wald oder an den Hängen aufgehalten”, sagte Artan. „Er wäre nicht unbemerkt geblieben.”
Brägan nickte ernst und sah mit bewölkter Stirn hinauf zum Bran, über dem die Nebel tosten. Noch immer konnte er kaum glauben, was er sah.
„Wie sehen die Wächter aus?”, fragte Fionn.
Brägan holte tief Luft. Er hatte noch nie einen Wächter mit eigenen Augen gesehen, nur ihre Beschreibung aus Raiks Buch der Zaubersprüche war ihm bekannt. „Die Wächter sind Schatten aus tiefster Finsternis. Daran werdet ihr sie erkennen. Wenn ihr auf sie stoßt, sprecht die Worte hel aldron, um sie zu besänftigen. Dann bietet ihnen eure Hilfe an.” Er drehte sich zu den Flyren um. „Niall! Bitte flieg in die Stadt zu Cemred und sag ihm, er möge die Menschen in die Höhlen bringen.”
„Ja, gut”, erwiderte der Flyr, breitete seine beigen Schwingen aus und schoss davon.
„Eilen wir uns”, rief Brägan und stieg mit Artan und den Rüden Tanor und Balyt auf Nuadas Nacken, während Claig und Fionn mit jeweils zwei Hunden auf ihre Flyre sprangen.
„Der Nebel hat schon den Park hinter der Bibliothek erreicht”, rief Nuada, als die Flyre über die stillen Baumkronen hinweg auf den Berg zuschossen.
Brägan wandte sich um und schaute zur Stadt, nach der die hässlichen grauen Schwaden bereits ihre Finger ausstreckten. Nach und nach erloschen Rhyallis` Lichter, Schreie und fremde Stimmen erfüllten die Luft. Warum hatte er Hefeyd ausgerechnet jetzt in Jos Welt geschickt? Er hätte den Wächter von Rhyallis gut gebrauchen können. Kurz streifte ihn der Gedanke, dass dies kein Zufall war.
Nuada stieg höher und höher. Nur vereinzelt flackerten noch Blitze auf und die Donnerschläge rollten nun über die Berge weiter im Osten. Trotz der Kühle der Nacht rann Brägan der Schweiß über das Gesicht. Vergeblich versuchte er, die aufkeimende Furcht in seinem Inneren zu verdrängen. Würden sie die Wächter rechtzeitig finden und den Nebel zurücktreiben können, bevor das, was auf dem Gipfel verborgen war, zum Leben erwachte?