Kapitel 1
Sturmnacht
Den Weg zurück zum Haus würde sie nicht mehr schaffen.
Unerbittlich stieß der Sturm sie voran. Er riss an ihren Haaren, zerrte an ihrer Kleidung und heulte gegen das Gebrüll der Wassermassen an, die sich an Land warfen. Blitze zerfetzten die Nacht und ließen die schäumende Gischt silbrig weiß aufleuchten. Donner rollten heran und erschütterten den Erdboden. Dann kam der Regen, kalt und heftig.
Die zierliche junge Frau kniff die Augen zusammen und starrte auf die schwarzen Umrisse der Klippen zu ihrer Rechten. Dort würde sie Zuflucht finden. Doch die Böen hatten andere Pläne und schoben sie auf die tosende Brandung zu. Schon griffen die Wellen nach ihren nackten Füßen und brachten sie zu Fall. Schwerfällig kam sie auf die Knie und ergriff kriechend die Flucht vor der heran drängenden See.
Sie fühlte ihre Kräfte schwinden. Als sie zu Boden sank, drückten sich harte Steinkiesel in ihre Wange. Ruckhaft hob sie den Kopf. Die Klippen mussten ganz nah sein, doch der nun undurchdringliche Regenvorhang entzog sie ihrem Blick.
Keuchend zog sich die Frau auf die Knie und kroch weiter. Endlich ertastete sie das zerfurchte Gestein der Klippen. Vor Kälte und Erschöpfung zitternd richtete sie sich auf und drängte sich an der Felswand entlang, bis sie auf eine Öffnung stieß. Mit letzter Kraft stolperte sie hindurch und fiel zu Boden.
Als sie die Augen aufschlug, blickte sie in tiefe Dunkelheit. Schmerzen schossen durch den Knöchel ihres rechten Fußes, als sie sich erhob. Der Bruch wollte einfach nicht heilen. Mit ihren klammen Fingern öffnete sie den Reissverschluss ihrer Lederjacke, um die Taschenlampe hervorzuziehen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und runzelte die Stirn.
Es war still.
Der Sturm mochte weitergezogen sein, doch was war mit dem Rauschen des Meeres?
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Schalter der Taschenlampe betätigte. Der Lichtstrahl traf auf steile Felswände, eine steinerne Decke wölbte sich in großer Höhe über ihr. Sie befand sich in einer der vielen Grotten, die sich in den Klippen an der Küste verbargen und in die sie sich nachts zum Singen zurückzog. Doch diese Höhle war anders: es gab keinen Weg hinaus.
Schon wieder, sagte die vertraute Stimme in ihrem Kopf.
“Ja”, flüsterte die Frau und schloss erschöpft die Augen.
Sie ängstigten sie nicht mehr, diese merkwürdigen, unerklärlichen Ereignisse, die sie seit dem Tod ihres kleinen Bruders vor vier Jahren begleiteten: Stimmen, Erscheinungen, Ahnungen und Visionen. Die Frau wusste, dass sie über besondere Gaben verfügte, und sie wusste, dass sie anders war.
Reglos stand sie da und starrte gegen die Höhlenwand. Plötzlich stutzte sie. Knapp über dem Boden direkt vor ihr befand sich ein etwa faustgroßes Loch. Sie ging in die Hocke und schlug mit dem Griff der Taschenlampe gegen das die Öffnung umgebende bröckelnde Gestein, bis sich eine kleine Nische vor ihr auftat. Ein flacher Gegenstand schimmerte ihr rötlich entgegen.
Ihre Hand zitterte leicht, als sie in die Öffnung griff, ihre breiten Silberringe schabten kalt über den Fels.
Lass es in Ruhe!
Die Frau schenkte der Stimme keine Beachtung. Entschlossen tasteten ihre Finger nach dem Gegenstand und zogen ihn hinaus.
Es war ein schmales, in dunkelrotes, fleckiges Leder gebundenes Buch. `Francois Ledoux’ und ‘Zeit der Schatten’ stand in goldenen Buchstaben auf dem Einband. Sie schlug das Buch auf und suchte nach dem Erscheinungsdatum: ‘Paris, 1939’. Auf der gegenüberliegenden Seite stieß sie auf handgeschriebene Worte, die nahezu verblasst waren. Sie kniff die Augen zusammen, um sie im Licht der Taschenlampe entziffern zu können.
Für J.
auf ewig
M.
Die Frau setzte sich auf den sandigen Boden, lehnte ihren Rücken gegen die Felswand, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Dann schlug sie das erste Kapitel auf und begann zu lesen.
Es begab sich zu einer Zeit, als die Fledermäuse fast das ganze Gebiet von Nutraq beherrschten. Dunkelheit hatte sich vor vielen Jahren über Teile des Landes gelegt und die Menschen weit in den Süden zurückgedrängt, wo sie in großen Siedlungen auf die Erfüllung der Prophezeiung warteten. Bisher war es niemandem gelungen, die Große Finsternis zu beenden. Doch nun schien sich das Blatt zu wenden. Log, ein Bergspringer aus Unkal hatte verkündet, das Licht nach Nutraq zurück zu bringen. Er stand nicht allein, eine Tulag und ein Südländer unterstützten ihn bei seinem Vorhaben.
Die Frau senkte das Buch in ihren Schoß und runzelte die Stirn. Nachdenklich strich sie mit den langen Fingern über den Einband. Das Leder fühlte sich warm und lebendig an.
Mit diesem Gefühl schlief sie ein.